Mit dem zweiten Album der Face2Face-Reihe setzt das Amaryllis Quartett seine künstlerische Vision fort, die Musikgeschichte als lebendigen Dialog zwischen Epochen und Stilen zu begreifen. Anlässlich seines 20-jährigen Bestehens widmet sich das Ensemble erneut Ludwig van Beethoven – und stellt dessen Werke diesmal dem Schaffen des Schweizer Komponisten Rudolf Kelterborn gegenüber, einem der faszinierendsten, aber in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannten Komponisten des
20. Jahrhunderts.
Rudolf Kelterborn (1931–2021) war ein musikalischer Universalist im besten Sinne: Er wirkte als Komponist, Dirigent, Musikpädagoge, Musikwissenschaftler und Musikjournalist. Kelterborns Schaffen ist geprägt von einer außergewöhnlichen Offenheit und Neugier. Er scheute keine Experimente und ließ sich von unterschiedlichsten Stilen und musikalischen Strömungen inspirieren – von der Zweiten Wiener Schule über die Avantgarde bis hin zu postmodernen Ansätzen. Seine Kompositionen verweigern sich klaren Schubladen und sind von einem tiefen Ausdruckswillen, einer nuancierten Klangsprache und einer Lust an der Erkundung neuer musikalischer Räume geprägt. Kelterborn selbst beschrieb seine Haltung als „Anything goes – (fast) alles ist erlaubt“, was sich in der Vielseitigkeit und Spontaneität seiner Musik widerspiegelt.
Das Amaryllis Quartett hat zu Kelterborn eine besondere Beziehung: Nicht nur die Schweiz als gemeinsamer geografischer Bezugspunkt, sondern auch eine geplante – durch seinen Tod nicht mehr zustande gekommene – Zusammenarbeit, verbindet das Ensemble mit dem Komponisten. Mit großer Sorgfalt und Empathie nähert sich das Quartett nun Kelterborns 6. Streichquartett (2001), das auf dem neuen Album Beethovens Werken gegenübergestellt wird. Das Werk beeindruckt durch seine energetische Anlage, ungewöhnliche Spieltechniken und einen dramaturgisch dichten Aufbau. Schon der Beginn mit einer Solo-Kadenz der ersten Violine zieht die Hörer:innen in einen musikalischen Sog, der von expressiven Ausbrüchen bis
zu zarten, fast schwebenden Klangflächen reicht. Kelterborns Musik ist nie Selbstzweck – sie ist immer ein Gespräch, ein Suchen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und ein
Infragestellen musikalischer Konventionen.


